Freitag, 21. Januar 2005
leseprobe: wachen!wachen!
wonse saß allein in dem großen und verheerten saal. er wartete.
natürlich konnte er zu fliehen versuchen. aber das ungetüm würde ihn bestimmt finden, ganz gleich wo er sich aufhielt. es witterte sein bewusstsein.
oder es beschloß, ihn zu verbrennen. das war noch viel schlimmer. so wie die brüder. vielleicht handelte es sich um einen sofortigen tod, es sah wie ein sofortiger tod aus, aber wenn wonse des nachts wach im bett lag, überlegte er immer wieder, ob sich jene letzten mikrosekunden zu einer unglaublich heißen subjektiven ewigkeit dehnten, während der alle teile des körpers zu kochendem plasma wurden und das denken und empfinden gelegenheit bekam, jede einzelne schmerzphase detailiert zu erleben.
mach dir keine sorgen. dich würde ich nicht verbrennen.
es war keine telepathie. unter telepathie hatte sich wonse immer vorgestellt, dass man eine stimme im kopf hörte.
in diesem fall erklang die stimme im körper. sie spannte das nervensystem wie die sehne eines bogens.
steh auf.
wonse sprang auf die beine. der stuhl kippte zur seite, und er stieß mit den knien an die tischkante. wenn jene stimme ertönte, hatte er eben soviel kontrolle über seinen körper wie wasser auf gravitation.
komm.
wonse setzte sich taumelnd in bewegung.
die schwingen entfalteten sich langsam, knarrten leise und reichten schließlich von einer wand des saals bis zur anderen. die spitze seines flügels zerschmetterte ein fenster und ragte nach draußen in den späten nachmittag.
langsam und majestätisch reckte der drache den hals und gähnte. als er damit fertig war, drehte er den kopf und senkte ihn, bis der abstand zum gesicht des sekretärs nur mehr wenige zentimeter betrug.
was bedeutet 'freiwillig'?
"es, äh, bedeutet, dass man aus freiem willen handelt", erklärte wonse.
aber die menschen haben keinen freien willen! entweder vergrößern sie meinen hort, oder ich verbrenne sie!
wonse schluckte. "ja", bestätigte er, "aber du darfst nicht..."
er duckte sich im tosen des lautlosen zorns.
ich darf alles! es gibt keine verbote für mich!
"oh, natürlich, natürlich!" quiekte wonse und presste beide hände an die schläfen. "so meinte ich das nicht! auf diese weise ist es besser. glaub mir. besser und sicherer!"
niemand kann mich besiegen!
"davon bin ich überzeugt..."
niemand kann mich kontrollieren!
wonse hob die arme und hoffte, das seine geste beschwichtigend genug wirkte. "selbstverständlich, völlig klar", sagte er. "aber es gibt mittel und wege, weißt du. mittel und wege. das brüllen und verbrennen und so, nun, äh, es ist gar nicht nötig..."
du dummer affe! wie soll ich sonst dafür sorgen, dass sich die leute meinem willen unterwerfen?
wonse legte die hände auf den rücken.
"sie werden deine anweisungen freiwillig ausführen", erwiederte er. "und mit der zeit glauben sie bestimmt, es sei ihre eigene idee gewesen. die ganze sache wird zu einer tradition, das versichere ich dir. wir menschen sind sehr anpassungsfähig."
der drache bedachte ihn mit einem langen nachdenklichen blick.
wonse versuchte, das zittern aus seiner stimme zu verbannen, als er hinzufügte: "bestimmt dauert es nicht mehr lange bis... nun, wenn jemand kommt und meint, der könig tauge nichts, so steinigt man ihn wahrscheinlich."
das ungetüm blinzelte.
zum ersten mal schien es ein wenig unsicher zu sein.
"mit menschen kenne ich mich aus", sagte wonse schlicht.
der drache hielt einen starren, durchdringenden blick auf ihn gerichtet.
wenn du lügst... dachte er schließlich.
"ich könnte dich gar nicht belügen, das weißt du doch."
und sie verhalten sich wirklich so?
"oh ja, die ganze zeit über. eine typisch menschliche eigenschaft."
wonse wusste, dass der drache zumindest die gedanken an der oberfläche seines bewusstseins las, und dort herrschte eine resonanz des schreckens. er blickte in die großen roten augen und erahnte wenigstens die überlegungen dahinter.
der drache war gleichermaßen verblüfft und entsetzt.
"tut mir leid", sagte wonse. "so sind wir nun mal. hat was mit dem überleben zu tun, glaube ich."
es gibt keine mächtigen krieger, die unterwegs sind, um mich zu töten? dachte der drache enttäuscht.
"ich bezweifle es."
keine helden?
"nein, nicht mehr. sie sind zu teuer."
aber ich werde menschen verschlingen!
wonse zuckte zusammen.
er fühlte, wie die mentalen ausläufer des drachen in seinem ich umhertasteten und nach hinweisen suchten, nach informationen, die ihm das verstehen erleichterten. eine mischung aus sehen und spüren bot ihm kurzlebige drachenbilder dar, aus dem mythischen zeitalter der reptilien und - begleitet von dem aufrichtigen erstaunen des ungeheuers - aus weniger lobenswerten epochen der menschlichen geschichte. nun, eigentlich gab es gar keine anderen. ganz gleich, auf welche weise sich der drache verhielt: es war praktisch unmöglich, dass er den menschen mehr leid bescherte, als sie sich gegenseitig zufügten, häufig sogar mit großer begeisterung.
du hast die unverschämtheit, schockiert zu sein, dachte der schuppenriese. aber wir waren drachen. man erwartete von uns, grausam, hinterhältig, gemein und schrecklich zu sein. aber eins will ich dir sagen, du, du affe - der große kopf kam noch etwas näher, und wonses blick reichte in die erbarmungslosen tiefen der roten augen - wir haben uns nie gegenseitig verbrannt, gefoltert und zerrissen und dafür moralisch-ethische gründe angeführt.
der drache streckte mehrmals die schwingen und hockte sich dann auf den tandhaufen aus eher weniger kostbaren dingen. eine klaue wühlte kurz in der masse glitzernder objekten, und dann ertönte ein verächtliches schnaufen.
nicht einmal eine dreibeinige echse würde so etwas horten, dachte das ungetüm.
"bald bekommst du wertvollere gegenstände", flüsterte wons, erleichtert darüber, dass ihm nicht mehr die volle aufmerksamkeit des drachen galt.
das will ich auch stark hoffen.
"darf ich..." wonse zögerte. "darf ich dir eine frage stellen?"
ich höre.
"es ist doch nichtnötig, dass du menschen verschlingst, oder? ich glaube, darin sehen die bürger der stadt das einzige problem, weißt du", fügte er hastig hinzu und sprach immer schneller. "in hinsicht auf die schätze und so ergeben sich bestimmt keine schwierigkeiten, aber wenn es um, äh, protein geht, nun, vielleicht ist ein so mächtiger intellekt wie deiner bereits auf den gedanken gekommen, dass weniger umstrittene nahrung, zum beispiel kühe..."
der drache spie horizontales feuer, das eine dicke ascheschicht an der gegenüberliegenden wand zurückließ.
nötig? nötig? donerte er, als das zischen, knistern und prasseln verklang. sprichst du etwa von notwendigkeiten? ist es nicht tradition, dass die schönste aller frauen dem drachen geopfert wird, um frieden und wohlstand zu sichern?
"nun, weißt du, wir sind immer recht friedlich und einigermaßen wohlhabend gewesen..."
möchtest du, dass es dabei bleibt?
die wucht dieser mentalen antwort drückte wonse auf die knie.
"natürlich", brachte er hervor.
der drache hob wie beiläufig die klauen.
dann betrifft jene notwendigkeit nicht mich, sondern euch, dachte er
verschwinde jetzt. ich will dich nicht mehr sehn.
wonse sackte in sich zusammen, als sich das fremde aus seinem bewusstsein zurückzog.
der drache kroch über den haufen aus billigem flitter, erreichte den sims eines hohen fensters und zertrümmerte das glas mit dem kopf. das bunte abbild eines stadtvaters viel in myriaden splittern auf den schutt.
der lange hals ragte in die kühle luft des frühen abends und neigte sich wie eine kompassnadel hin und her. erste lichter glühten in der stadt, und das geräusch von einer million menschen, die fleißig lebten, verursachte ein dumpfes, pulsierendes summen.
der drache holte tief und fröhlich luft.
dann zog er auch den rest seines körpers auf den sims, stieß den fensterrahmen mit einem kurzen schulterzucken beiseite und sprang gen himmel.

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